Leseprobe
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Ankunft in Ajan
Spät war es geworden an diesem Abend. Nicht, dass die Uhrzeit einen Unterschied machen würde, eher die Dunkelheit, wenn Mama wollte, dass Suna ins Bett ging.
Wieder einmal hatte Suna sich besonders gründlich die Zähne geputzt. Sie hatte sich sehr ausgiebig die langen, blonden Haare gekämmt, die Mama ihr morgens immer zu einem dicken Zopf flocht. Anschließend hatte sie noch drei Mal einen Riesendurst gehabt.
Nun lag sie in ihrem Bett. Es war kuschelig und ein warmer Lichtstrahl fiel vom Flur in das ansonsten unbeleuchtete Zimmer.
Mama hatte ihr “Gute Nacht“ gesagt und auch Papa hatte sie noch einmal geknuddelt und ihr einen dicken Kuss auf die Wange gedrückt.
Suna überlegte, ob sie noch einmal Durst vortäuschen sollte. Allerdings würden Mama und Papa auch irgendwann ungeduldig werden, wenn sie zu oft wieder aufstehen würde.
Tagsüber war Suna ein fröhliches Kind. Bei ihren Freunden in der Schule konnte sie immer jemanden zum Lachen bringen.
Abends war es anders, denn mit der Dunkelheit kam auch die Angst. Schon viele Abende hatte Suna in ihrem Bett gelegen, an die Decke gestarrt und sich vorgestellt, wie es wohl wäre, jemand anders zu sein. Jemand ohne Angst. Jemand Mutiges. Jemand, der kein Abenteuer scheute.
Sunas größtes Abenteuer hatte einmal darin bestanden, bei ihrer Freundin Lisa übernachten zu wollen. Leider hatte ihre Angst ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht und das Abenteuer vorzeitig beendet. Lisas Mutter hatte Suna mitten in der Nacht wieder nach Hause fahren müssen, denn in Lisas Zimmer war es schrecklich dunkel gewesen bis auf das fahle Mondlicht das durch die Gardine schimmerte, und Suna hatte in jeder Ecke komische Schatten gesehen. Danach hatte sie es nie wieder versucht.
Suna nahm Teddy in die Arme und drückte ihn so fest sie konnte. Teddy war ein kleiner brauner Bär mit Schlackerarmen und -beinen. Ohne ihn war an Einschlafen gar nicht zu denken! Ganz leise sprach sie mit ihm und streichelte sein weiches Fell. Warum nur, war sie abends so ängstlich? Schritte im Flur ließen Suna aufhorchen. Mama!
„Was ist denn los, mein Schatz? Kannst du wieder nicht schlafen?“
Suna schüttelte traurig den Kopf. „Kannst du nicht bei mir bleiben, bis ich eingeschlafen bin, Mama?“
Mama strich über Sunas Wange. „Du brauchst vor nichts Angst zu haben, wir sind doch ganz in deiner Nähe!“
Tatsächlich war Sunas Zimmer nur durch den Flur von der Wohnzimmertür getrennt.
„Ich weiß auch nicht...ich...“
„Pass auf, mein Mädchen, ich zeig' dir etwas! Kennst du schon den Trick mit der magischen Mauer?“
Suna zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen. Mama wollte sie anscheinend aufmuntern, auch wenn Suna mit ihren elf Jahren eigentlich viel zu alt war, um an irgendwelche zauberhaften Geschichten zu glauben. Wenn es aber dazu führte, dass Mama noch ein paar Minuten länger bei ihr saß, war Suna jede Geschichte recht.
Mama beugte sich vor und nahm Felan aus dem Puppenbett. Felan war ein kleiner Kuscheltierwolf. Ihre Kuscheltiere waren Sunas Ein und Alles. Mama setzte Felan neben Sunas Kopf. „Felan sitzt heute Nacht hier an deiner Seite und wacht über dich!“, sagte Mama. Dann nahm sie Halka, eine Eule, die früher einmal Mama gehört hatte, als diese selbst noch ein Kind gewesen war, und setzte sie neben den kleinen Wolf. Es folgten ein Igelmädchen namens Jonne und ein Eisbär, der auf den Namen Ando hörte. Sie alle saßen nun in einer Reihe an der Seite von Sunas Bett, die zum Zimmer zeigte.
„DAS...“, sagte Mama, und zeigte auf die Parade der Fellknäuel, „...ist deine magische Mauer! Nichts und niemand dringt hindurch! Bei Nacht, wenn du schläfst, erwachen deine Lieblinge zum Leben und beschützen dich! Denn das ist ihr Job. So kannst du beruhigt schlafen.“
Suna zog eine Augenbraue hoch. Glaubte Mama wirklich, dass sie Suna mit einer solch kindischen Geschichte abspeisen konnte? Mama blickte Suna erwartungsvoll an.
„Du meinst es ernst, Mama, oder?“
Suna hatte etwas mehr erwartet als so einen lahmen Versuch von Mama, wieder so schnell wie möglich zu Papa ins Wohnzimmer zu kommen. Enttäuscht ließ sie die Schultern hängen.
„Suna. Ich weiß, du denkst, ich will dir einen Bären aufbinden...“
Fragend schaute Suna Mama an.
„Das bedeutet, jemanden anzuschwindeln. Aber ich meine es durchaus ernst. Du wirst mir vertrauen müssen. Die magische Mauer ist sehr mächtig. Sie kann dir sehr viel Schutz bieten. Aber du musst es auch wollen!“
Ein warmes Lächeln huschte über Mamas Gesicht. „Willst du es versuchen?“
Suna glaubte nicht an den Kinderkram, den Mama sie versuchte glauben zu machen. Aber sie merkte, dass Mama sich sehr bemühte, dass es Suna besser ging. Suna liebte ihre Mutter über alles. Sie wollte sie nicht enttäuschen und nickte.
„Super!“ Mama nahm sie liebevoll in den Arm.
Suna sog Mamas Geruch ganz tief ein und fühlte sich sofort geborgen.
„Gute Nacht, mein Schatz! Nun schlaf schön. Deine Tiere passen auf dich auf! Und Papa und ich sowieso. Ich hab‘ dich lieb!“, sagte Mama im Gehen.
Suna ging es nun schon viel besser.
„Ich dich auch, Mama!“
Sie legte sich hin und schaute sich ihre Kuscheltiere an, wie sie da alle aufgereiht saßen.
Die Müdigkeit ließ nicht mehr lange auf sich warten. Sunas Augen wurden schwer und irgendwann fielen sie ihr einfach zu.
Sie dachte noch, wie albern das doch eigentlich mit der magischen Mauer war, und dass sie eigentlich auch viel zu alt für so etwas sei, als ein leises Rascheln sie die Augen wieder öffnen ließ. Zunächst sah sie nicht, was sie wieder geweckt hatte, doch dann vernahm sie ein Schmatzen. Komisch, es hörte sich an, als käme es aus ihrem Bett!
Suna spürte wieder, wie sich die Angst in ihr ausbreitete und sich ihre Nackenhaare aufstellten. Sie wollte gerade die Augen ganz fest zupressen, um so schnell wie möglich wieder einzuschlafen, da sah sie es. Etwas, das sie die Augen aufreißen ließ: das Igelmädchen Jonne - es bewegte sich!
Seelenruhig saß sie an ihrer Seite, knabberte völlig vertieft an etwas herum und schmatzte dabei genüsslich vor sich hin. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass sie nun von Suna beobachtet wurde.
„Häää?“ Suna kratzte sich verwundert am Kopf. Vor lauter Schreck ließ das kleine Igelmädchen sein Fressen fallen und war eine Sekunde später eine stachelige Kugel. Suna musste lachen. Das war wirklich zu putzig.
Eine Bewegung neben Jonne verschreckte Suna ihrerseits. Aus dem Schatten kam Halka, die Eule. Sunas Eule! Die nun mindestens genauso groß war wie Suna selbst! Und ebenfalls lebendig! Sie schaute Suna aus schlauen Augen an. “Kind, wie kommst du denn hierher?“, fragte sie erstaunt mit weicher Stimme. Suna traute ihren Augen kaum.
„W...wie...?“, stotterte sie. Die Worte blieben ihr im Hals stecken.
„Schlaf schnell wieder ein, mein Kind.“
„Einschlafen? Wie könnte ich? Ich rede gerade mit einem meiner Kuscheltiere!“ Suna lachte ein verblüfftes, ungläubiges Lachen. Als sie sich gerade in ihrem Zimmer umschauen wollte, bemerkte sie, dass sie etwas ins Knie piekste. Sie befühlte das Etwas und besah es sich im Dunkel der Nacht. Es war ein Steinchen! Ein Stein in ihrem Bett? Wo kam der denn her? Auch hatte sie das Gefühl, dass die Matratze sich viel härter anfühlte als vorher. Die Luft schien kühler und es roch leicht nach Waldboden und Feuer.
Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie, dass sie sich nicht mehr in ihrem Bett befand. Schlimmer! Sie war nicht mal mehr in ihrem Zimmer, geschweige denn zu Hause!!! Hilfe! Wo war sie? Sie blickte sich um.
Im Halbschatten, etwa zwei Meter entfernt, sah sie eine große Gestalt liegen. Das war Ando, der Eisbär! Er hob den Kopf und schaute neugierig zu ihnen herüber.
Suna merkte, wie Panik in ihr aufstieg. Was war hier los? Träumte sie? Sie strich sich über die Augen, aber das Bild das sie sah, war das Gleiche. Dort stand ihre übergroße Eule Halka, und daneben war der Igel, der anfing, sich langsam wieder aus seiner Kugelform zu lösen, nebst einem Eisbären. Aber…, da fehlten doch noch zwei..., oder? Wo waren Teddy und Felan, der Wolf? Suna erhob sich langsam.
Ando brummte: „Was ist los, Halka?“ Halka sah ihn ein wenig besorgt an. „Es ist Suna, sie ist hier! Bei uns! Hellwach!“
Andos Augen weiteten sich vor Überraschung.
„Träumst du, Halka? Wie meinst du das?“, fragte er.
„So, wie ich es sage, Ando! Sie ist hier“, sagte Halka.
„Hier? Wo ist hier? Wo bin ich?“, fragte Suna panisch. Sie zitterte am ganzen Körper.
„Mein Kind, du bist in Ajan. Hier passen wir auf dich auf! Hab` keine Angst!“ Halka trat einen Schritt auf Suna zu und legte einen Flügel um sie. Suna spürte die Wärme, die von der Eule ausging und fühlte sich sofort besser.
„Wie kann es denn sein, dass sie hier ist? Sie sollte nicht hier sein!“, sagte Ando. „Sie gehört nach Hause, in ihr Bett.“
Er erhob sich. Suna bemerkte, dass er gar nicht mehr wie ein Kuscheltier aussah, sondern eher wie ein richtiger Eisbär. Das Gleiche galt für die anderen Tiere. Und trotzdem waren es unverkennbar IHRE Kuscheltiere.
Sie wollte gerade etwas erwidern, da kamen ein junger Wolf und ein Braunbärjunges hinter einem Baum hervorgetollt.
„Felan? Teddy?“ Suna bekam vor lauter Staunen den Mund nicht mehr zu. Ein Ruck ging durch die beiden Raufbolde und sie blieben wie angewurzelt stehen.
„Suna?“, fragten beide wie aus einem Mund.
Fragend schauten sie zu Halka und dann zurück zu Suna, als glaubten sie nicht, was sie sahen. Halka hob eine Feder ihres Flügels, so als wäre es ein mahnender Zeigefinger.
„Ihr solltet euch doch in der Nähe aufhalten! Wo seid ihr gewesen?“
„Öhm...äh...hmmm...er war`s! Er hat mich angestiftet, zum Fluss zu laufen!“ Felan stupste mit der Pfote in Teddys Seite.
„Das ist nicht wahr!“, rief der kleine Braunbär ehrlich empört.
„Schon gut, schon gut!“ stöhnte Halka. „Gut, dass ihr jetzt da seid. Suna ist hier!!! Wir müssen beratschlagen, was zu tun ist, damit sie so schnell wie möglich wieder den Weg nach Hause findet.“
Das Igelmädchen kaute inzwischen wieder seelenruhig auf etwas herum.
„Suna, wie bist du hierher gekommen?“, fragte Teddy erstaunt.
„Ich habe keine Ahnung!“, sagte sie immer noch leicht verängstigt. „Ich weiß ja noch nicht einmal, wo ich hier bin.“
Halka hatte ihre Schwinge zurückgenommen und stand nun einen Schritt von Suna entfernt.
„Wie gesagt, du bist in Ajan, mein Kind“, sagte die Eule. „So heißt dieses Land, in dem wir leben. Normalerweise bleibst du in deiner Welt und wir in unserer. Es passiert allerdings immer mal wieder, dass ein Menschenkind irgendwie den Weg nach Ajan findet. Aber morgen früh bist du ganz bestimmt wieder wohlbehalten in deinem Bett."
„Ajan? Morgen früh?“, fragte Suna, bei der die Angst mittlerweile ein wenig nachließ.
Ando kam näher. Suna konnte ihre Hand ausstrecken und ihn berühren, so nah stand er nun. Sie fühlte das warme, weiche Fell unter ihren Fingerspitzen und war froh, von ihren liebsten Spielkameraden umgeben zu sein.
„Hier in Ajan...“, sagte Ando, der Eisbär, „...wachen wir nachts über deinen Schlaf, Suna. Tagsüber, wenn wir schlafen, können wir dich in unseren Träumen sehen, wenn wir in deiner Nähe sind. Normalerweise merken die Kinder nichts davon, denn sie wissen ja nicht einmal, dass dieser Ort existiert. Aber aus irgendeinem Grund bist du nun hier. Bei uns. Wach.“
Suna spiegelte sich in Andos dunklen Augen und Ando spürte, wie verwirrt sie war. Er rieb seinen großen Kopf an ihrer Schulter.
Sie schaute sich um. Es war ein seltsamer Ort, an dem sie sich befanden. Alt fühlte er sich an. Sie alle standen vor einem grasbewachsenen Wohnhügel mit einer runden Öffnung als Eingang. Blickte man in das Innere, sah man, dass es leicht bergab ging in einen großen, runden Raum, halb überirdisch, halb unterirdisch. Umrundete man den Wohnhügel, stand man am Fuße einer Mauer, die kein Ende zu nehmen schien. Die Mauer war riesig, aus großen, grauen Steinen, die teilweise mit Moos bewachsen waren. In regelmäßigen Abständen beleuchteten Fackeln das Bauwerk auf Augenhöhe. Ganz in der Nähe schien sich ein großer, hölzerner Aufstieg zu befinden.
Aus dem Hügel fiel ein schwacher Lichtstrahl hinaus in die warme Nacht. Er beleuchtete sanft den kleinen, runden, von tausenden blühenden Blumen bewachsenen Garten vor dem Hügel, in dem sich Kräuter- und Gemüsebeete den Platz mit einer Feuerstelle teilten, die sich direkt in der Mitte des Gärtchens befand. Ein knisterndes Feuer brannte darin und drum herum lagen Baumstämme als Sitzgelegenheit. Ein lächerlich niedriger Holzzaun umrahmte das kleine Grundstück. Trat man durch das niedliche Gartentor, stand man auf einem breiten Schotterweg, der die gleiche Richtung wie die Mauer nahm. Auf der anderen Seite des Weges wuchsen Büsche und hier und da vereinzelt Bäume. Erst in einiger Entfernung standen die Bäume dichter und wurden zu einem Wald. Ein leichtes Lüftchen wehte, und der Himmel war sternenklar. Aus der Ferne hörte man etwas plätschern und gurgeln. Ein kleiner Fluss vielleicht, vermutete Suna.
Als Suna an sich selbst heruntersah, staunte sie nicht schlecht. Sie steckte nämlich nicht mehr in ihrem Schlafanzug! Sie hatte eine enge, grüne Hose an, braune Lederstiefel, ein graues Shirt mit langen Ärmeln und eine gestrickte Wollweste. Selbst bei einer leicht kühlen Abendbrise würde sie sich damit immer noch kuschelig warm angezogen fühlen. Aber das Beste an dem ganzen Outfit war ein breiter Gürtel mit silbernen Nieten, die wie kleine Pfoten aussahen. Er hing ihr schräg um die Hüften und verlieh ihr auf diese Weise ein Aussehen, wie Suna sich das von Abenteurern vorstellte. Wow! Wenn ihre Freunde in der Schule sie so sehen könnten! Die würden Augen machen!
Sunas Angst wurde langsam weniger. Sie war nicht allein. Sie schaute in die Runde der um sie stehenden Tiere und sah nur liebe und vertraute Gesichter. Es hätte sich keiner vorstellen können, dass das größte Abenteuer ihres Lebens noch auf sie wartete…
Suna, die nun mit einem dampfenden Becher Tee draußen am Feuer saß, schaute in die Runde der um sie herum sitzenden Tiere.
„Dann wisst ihr also nicht, wie ich nach Hause zurückkomme?“, fragte Suna.
„Nein, mein Kind“, sagte Halka und drehte ihren Kopf einmal ganz um seine Achse. „Ich habe aber mal gehört, dass man schlafen muss, um den Weg hierher zu finden. Es würde also durchaus Sinn machen, wenn der Rückweg auch nur über den Schlaf funktioniert. Aber mach‘ dir keine Sorgen, bis jetzt hat jeder den Weg zurückgefunden. Bis dahin passen wir gut auf dich auf.“
Halka schloss ein Auge, um es kurz darauf wieder zu öffnen. Suna war sich nicht sicher, ob das ein Zwinkern gewesen sein sollte. Dazu war es etwas zu langsam. Es sah jedenfalls sehr komisch aus. Fast hätte Suna gelacht. Sie musste also einschlafen, um nach Hause zu kommen? Suna fühlte sich gerade so wach und aufgewühlt. Es schien ihr ein Ding der Unmöglichkeit, in Kürze wieder einschlafen zu können. Aber sie hatte sowieso noch so viele Fragen, was würde es da schon ausmachen, noch ein wenig Zeit mit ihren Kuscheltieren zu verbringen.
Etwas entfernt von ihnen, auf dem Schotterweg, bemerkte Suna zwei Mädchen, die am Tor vorbeiliefen. Sie sahen irgendwie anders aus als normale Mädchen in Sunas Alter. Fragend schaute Suna zu Halka.
„Das sind Puppen, mein Kind!“, raunte Halka. „Du musst wissen, hier in Ajan leben all diejenigen an der Mauer, die von Kindern ausgesucht wurden, um auf sie aufzupassen. Die meisten Kinder wählen ein oder mehrere Kuscheltiere aus, andere wiederum Puppen, und einige wenige auch anderes Spielzeug. Manchmal denken sich die Kinder auch gar nichts dabei, sondern haben einfach einen Lieblingsteddy. Das wäre dann hier in Ajan der Beschützer des Kindes. Hier wird dir so einiges begegnen, das dir seltsam vorkommen wird.“
Felan beugte sich leicht zu Suna herüber und flüsterte verschwörerisch: „...so wie der da zum Beispiel!“ Mit einem frechen Grinsen nickte er in Teddys Richtung. Der kleine Bär riss empört die Augen auf. „Hey! Wie unhöflich!“ Suna sah den beiden jedoch an, dass sie Spaß machten und musste lächeln. Sie blickte zu Halka, die wieder ganz langsam eines ihrer Augen schloss. Suna war sich nun fast sicher, dass es ein Zwinkern sein sollte, denn es hätte sogar ein wenig schelmisch ausgesehen, wenn es denn nicht so langsam gewesen wäre. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Stattdessen fragte sie: „Was ist das für eine Mauer?“
Überrascht schauten ihre Kuscheltiere sie an. Ando, der Eisbär, ergriff zuerst das Wort: „Das weißt du nicht? Das ist die magische Mauer! Die Mauer, die wir Beschützer für euch Menschenkinder errichtet haben. Zu eurem Schutz. Auch du wirst durch sie beschützt.“
Dann hatte Mama doch recht gehabt und es gab die magische Mauer wirklich!
„Wovor beschützt ihr mich denn?“
„Vor den Schatten!“, sagte Ando.
Suna lief ein eiskalter Schauder über den Rücken. „...den Schatten?“
„Ja. Wir nennen sie Schatten. Du nennst sie Alpträume. Doch eigentlich sind sie mehr als das. Sie schleichen sich erst in die Träume der Kinder ein und dann in ihr Leben und verbreiten dort Chaos, Schmerz und Leid. Ihre Oberhäupter dürsten nach der Herrschaft über Ajan und schlussendlich auch über die Menschenwelt. Wir Ajaner bekämpfen die Schatten. Nacht für Nacht verteidigen wir gemeinsam die Mauer gegen ihr Eindringen in die Menschenwelt. Sie kommen bei Einbruch der Dunkelheit und ihr Angriff endet meist erst bei Tagesanbruch. Ihr oberstes Ziel ist es, die Mauer zu überwinden, die du wie eine Art unsichtbare Grenze zwischen unserer und deiner Welt verstehen kannst. Ajan und die Menschenwelt sind auf eine Art und Weise miteinander verwoben, wie es nur die wenigsten je wirklich erfassen können. Schafft es einer der Schatten die Mauer zu überwinden, und das passiert leider immer mal wieder, so hat ein Kind in der Menschenwelt einen Alptraum und das Unheil nimmt seinen Lauf. Wobei nicht jeder Alptraum von einem Schatten begleitet wird. Manche Alpträume sind auch einfach nur schlechte Träume...“
Suna schüttelte sich, wie um den Gedanken an ihre Alpträume loszuwerden. Zum Glück hatte sie fast nie welche.
„Wie lange gibt es die Mauer denn schon?“, wollte sie wissen.
Ando schien nicht so recht zu wissen, was er antworten sollte. Er überlegte kurz. Dann sagte er: „...eigentlich war sie schon immer da. Ich kenne es nicht anders.“
„Und was ist an der Mauer so magisch?“
Ando und Halka warfen sich einen kurzen, aber bedeutungsvollen Blick zu. Dann blickte Ando Suna an und antwortete: „Leider hat die Mauer im Moment nichts magisches mehr an sich. Sie wurde ihrer Kraft beraubt..., aber die Legende besagt, dass ein Mensch kommen und Ajan retten wird. Ein Mensch mit einem ganz besonderen Kennzeichen.“
„Oh, cool, und sagt die Legende denn auch, was das für ein besonderes Kennzeichen ist?“ Das klang wirklich spannend, fand Suna. Sie liebte Geschichten wie diese.
„Ja“, sagte Ando, „das tut sie in der Tat. Als Zeichen der engen Verbundenheit mit unserem Land trägt er ein Mal am Körper in Form eines Pfotenabdrucks.“
„Wie cool!“
„Mein Kind, das sind nur alte Geschichten...“, wandte Halka ein, „...über lange Zeit wiedererzählt. Es ist nichts Wahres daran. Sie geben den Ajanern zwar Hoffnung, nehmen ihnen aber gleichzeitig die Notwendigkeit, selbst etwas für ihre Zukunft zu unternehmen.“
„Dann glaubt ihr nicht an die Legende?“
Ando, Teddy und Felan sagten wie aus einem Mund: „Doch!“ Überrascht darüber grinsten sich die drei an. Halka seufzte. Wie um das Thema zu beenden, legte sie Suna sanft eine Schwinge um die Schulter und fragte: „Möchtest du Ajan und die Mauer vielleicht gerne einmal von oben sehen?“
Suna überlegte noch, wie die Eule das meinen konnte, da zeigte diese mit einer Federspitze auf ihren Rücken.
Suna stockte der Atem. Ihr erster Gedanke war, wild den Kopf zu schütteln, doch ihr zweiter Gedanke hielt sie davon ab: war es nicht genau das, was sie sich immer wünschte? Die Chance, jemand zu sein, der mutig war? Jemand, dem kein Abenteuer abenteuerlich genug war? Eine Stimme in ihrem Kopf schrie, dass das keine gute Idee sei. Aber es war dieser Ort, der an Suna eine Seite hervorbrachte, die sie selbst noch nicht an sich kannte: Abenteuerlust!
„Jaaa!“, sagte Suna mit leuchtenden Augen und hatte das Gefühl, die zitternde Stimme einer Fremden gehört zu haben. Aber es war die ihre gewesen, die das gesagt hatte!
Mit butterweichen Knien setzte sie sich auf Halkas Rücken und krallte sich in ihrem weichen Federkleid fest.
„Schön festhalten!“
Ein Ruck ging durch die Eule, und ehe Suna sich versah, schwang Halka sich mit ein paar kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Ein gewaltiges Kribbeln im Bauch erfasste sie, und ein lauter Freudenschrei bahnte sich einen Weg durch Sunas Kehle nach draußen.
Es war, als würde ein großer Knoten in ihrer Brust platzen. Suna atmete tief ein und ihre Lunge füllte sich mit klarer, kühler Nachtluft. Das war toller als jede Achterbahnfahrt! Der Boden entfernte sich. Die Bewohner Ajans wurden kleiner und kleiner, bis sie die Mauer schließlich unter sich hatten. Das Kribbeln im Bauch ließ langsam nach. Suna konnte den Flug mehr und mehr genießen.
Von hier oben konnte man nun sehen, wie breit die Mauer wirklich war, und dass an einigen Stellen auf der Mauer sogar kleinere Hütten errichtet worden waren, in denen Licht brannte. Aber noch viel erstaunlicher war ihre schier endlose Länge. Sowohl im Süden, als auch gen Norden erstreckte sich die Mauer bis zum Horizont, so weit das Auge reichte. Es war kein Ende auszumachen. Sie war wirklich riesig. Tiere liefen auf ihr hin und her, und an einigen Stellen auf der Mauer sah es so aus, als würde dort gekämpft, aber es war auf die Entfernung schwer zu erkennen und Suna war sich nicht sicher, denn sie flogen nun hoch oben am Nachthimmel.
Der Wind pfiff ihr laut um die Ohren. Ein Gespräch war nicht möglich.
Suna sah hunderte und tausende von kleinen Lagerfeuern und die beleuchteten Wohnhügel von oben, die sich auf der westlichen Seite überall an den Fuß der Mauer schmiegten.
Auf der anderen Seite der Mauer herrschte absolute Dunkelheit. Es war eine Schwärze, die nicht von einem einzigen Lichtstrahl durchbrochen wurde.
Als Halka wieder etwas tiefer, und somit näher an die Mauer heranflog, erblickte Suna etwas Interessantes. Es sah am ehesten wie eine Burg auf einem Baum aus. Eine wirklich riesige Eiche reckte sich ein ganzes Stück neben der Mauer gen Himmel empor. Sie war sicher über 300 Meter hoch, fast so hoch wie der berühmte Eiffelturm in Paris. Ihr Stamm war an die 30 Meter breit. Wahrscheinlich hätte man 58 Menschen gebraucht, die sich an den Händen hielten, um den Stamm zu umfassen. Aber das Beeindruckendste war die wirklich gigantische Baumkrone, die einen Durchmesser von über 500 Metern hatte, so breit wie fünf Fußballfelder, und deren ausladende, starke Äste die Mauer berührten.
Sie trugen hölzerne Unterkünfte mit Zinnen, die über Hängebrücken, Stege und feste Holzbrücken miteinander verbunden waren.
Am Fuß der Eiche öffnete sich ein übergroßer Eingang in den Stamm des Baumes, zu dessen Seiten sich Ajaner mit ihren Erdhügelhöhlen angesiedelt hatten. Diese bildeten einen kreisförmigen, großen Vorplatz, auf dem sich jede Menge Bewohner von Ajan tummelten.
Die Burg auf dem Baum war durch die überhängenden Äste und darauf gebaute Brücken ebenfalls mit der Mauer verbunden und man sah, dass auf der Mauer Tiere zur Wache aufgestellt waren. Sie behielten das Land im Osten im Auge.
Außerdem durchbrach ein großes hölzernes Tor mit imposanten Eisenketten die Eintönigkeit der steinernen Fassade.
Halka drehte eine Runde über der Festung, dann flogen sie zurück in Richtung Ausgangspunkt. Als sie wieder ganz tief über der Mauer flogen, glaubte Suna, auf der dunklen Seite der Mauer etwas gesehen zu haben. Eine Bewegung, sichtbar nur durch einen leichten Lichtstrahl, wie das Aufflammen eines Streichholzes, der sofort wieder verschwunden war, und der ihr sicher nicht aufgefallen wäre, hätte sie nicht zufällig genau in diesem Moment dort hingeschaut. Dann war es wieder stockdunkel dort unten. Hatte sie es sich nur eingebildet? Da! Da war doch eindeutig etwas oder jemand, das dort im Schwarz der Nacht herumzuschleichen schien. Suna verengte die Augen ein wenig, um besser sehen zu können, da setzte Halka auch schon zur Landung an. Noch bevor sie landeten, hörte man lautes Stimmengewirr und ein Signal wie von einem Horn. Man sah die Bewohner Ajans wie einen wild gewordenen Ameisenhaufen durcheinanderrennen. Etliche Tiere stürmten zur Mauer und bestiegen diese über einen nahegelegenen Aufgang. Halka setzte Suna vor Ando und Jonne ab.
„Ando, pass auf Suna auf!“, rief sie und hatte sich einen Moment darauf bereits wieder in die Lüfte geschwungen. Suna wusste nicht, wie ihr geschah. Panik stieg ihr, wie die Berührung einer eiskalten Hand, den Nacken hinauf und sorgte für ein unangenehmes Kribbeln auf ihrer Kopfhaut. Ihre Augen hatten sie nicht getäuscht! Es war keine Einbildung gewesen...